Auch das Gedenken an unsere Geschichte, sollte in diesen Tagen nicht vergessen werden.
In diesen Tagen und Wochen jähren sich die Todesmärsche von KZ Häftlingen in unserer Region zum 75. Mal. Es ist auch unsere Aufgabe in der heutigen Zeit, mahnend an die schlimmen Verbrechen der Vergangenheit zu erinnern. Unter normalen Umständen hätten wir diesem Anlass mit zwei Vorträgen gedacht. Allerdings lassen dies die aktuellen Zustände nicht zu. Sicher werden wir diese Veranstaltung nach Möglichkeit nachholen.
Um was geht es bei den Todesmärschen: Kurz vor Ende des zweiten Weltkrieges gab es nach Auflösung der Konzentrationslager eine Reihe von sogenannten Todesmärschen durch das Erzgebirge. Immerwieder kam es dabei auch zu Erschießungen von Häftlingen. Ein besonderer Marsch war jener durch Schlema am 14. April 1945, als 83 KZ-Häftlinge in Niederschlemavon von der SS ermordet wurden. Dr. Titzmann, der sich vor allem mit dem Todesmarsch durch Schlema beschäftigt hat, hat für diese Seite einen kleinen Auszug aus seinem Vortrag zugearbeitet.
Der Massenmord an KZ-Häftlingen in Niederschlema am 14. April 1945
Als sich im Frühjahr 1945 die Fronten immer schneller auf Mitteldeutschland zu bewegten, war es notwendig geworden, auch die dortigen Konzentrationslager und deren Hunderte Außenlager zu „evakuieren“. Einen solchen Räumungsbefehl ereilte auch das Flossenbürger Außenlager in Mülsen St. Micheln, zwischen Zwickau und Lichtenstein gelegen. Die Häftlinge durften nicht lebend in die Hände ihrer potentiellen Befreier geraten, so wollte es der Reichsführer-SS, Heinrich Himmler. So musste auch der Mülsener Lagerführer, SS-Untersturmführer Georg Degner, am 13. April zu einem später so genannten Todesmarsch in Richtung Prag aufbrechen. Sein Problem: Etwa jeder Zehnte seiner knapp 800 Gefangenen war praktisch gehunfähig! Was das heißt? Monatelange Unterernährung führte zu einem dramatischen Gewichtsverlust und zur Körpersilhouette eines Skeletts. Dazu kamen schwere Krankheiten, besonders Ruhr und Typhus. Das wiederum führte zusätzlich zu hohem Fieber, Schwindel, blutig-wässrigem Stuhl, völlige Ermattung, nahendem Tod. Mit diesen geschundenen Menschen konnte Degner gar nicht auf einen „Marsch“ gehen. Also organisierte er fünf Pferdefuhrwerke, packte die Halbtoten darauf und schickte sie vor der Kolonne her in Richtung Süden. Mit den anderen ging er zu Fuß. Die Nacht auf den 14. April verbrachten sie in Ortmannsdorf, nur unweit von Mülsen entfernt. Am nächsten Tag ging es nach Zschocken, Hartenstein und ins Schlematal. Im Muldetal bei Eibenstock warteten Waggons zur Weiterfahrt nach Böhmen. Allein für die Strecke von Ortmannsdorf bis nach Niederschlema brauchten die noch Gehfähigen(!) über acht Stunden. Eine Augenzeugin meinte später, dass die Häftlinge kurz vor Niederschlema gar nicht mehr gingen, sondern im Trippelschritt schlurften. Im hinteren Teil der über zwei Kilometer auseinandergerissenen Kolonne taumelten die entkräfteten Männer und hielten sich gegenseitig fest. In dieser Situation realisierte der Lagerführer, dass er so nicht weiterkonnte. Doch kein Häftling durfte ja lebend in „Feindeshand“ gelangen, so Himmler. Also dann die große Lösung.
Auf dem Niederschlemaer Sportplatz, dem nächsten vereinbarten Rastplatz, warteten schon die Pferdefuhrwerke. Die nun auf der Lößnitzer Straße haltende Kolonne erhielt von Degner das nicht ernst gemeinte Angebot, dass die nicht mehr Gehfähigen hier zurückbleiben könnten, bis die Amerikaner da wären. Etwa 40 völlig erschöpfte Männer gingen zu den etwa 50 auf dem Sportplatz lagernden hinüber. Waren die Gefangenen wirklich so naiv? Das waren sie nicht. Es war der letzte Funke Hoffnung, vielleicht doch überleben zu können. Auf dem Marsch war das vielen nicht mehr möglich. Am Ende der Kolonne wartete auf die Strauchelnden der Tod. Und die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Kurz nach 17 Uhr standen die auf der Straße sitzenden Häftlinge auf und die Kolonne setzte sich langsam in Bewegung. Georg Degner führte sie über Schneeberg in Richtung Blauenthal. Und dann immer weiter.
Zurück blieben die auf dem Sportplatz kauernden und liegenden apathischen Männer. Langsam sank die Sonne, die Schatten wurden länger und ihre zurückgelassenen Bewacher mussten mit dem finalen Akt beginnen. Mit dem wirklich Unvermeidlichen? Das erste Dutzend kroch auf ein Fuhrwerk, das sie den Kohlweg hinauf in den Wald brachte. Dann peitschten Maschinenpistolensalven. Das Fuhrwerk kam leer zurück. Aufsteigen wollte nun niemand mehr. Die Männer legten sich mit dem Bauch auf den Boden des Sportplatzes. Dann zogen sie ihre Decken über sich. Das waren die letzten Befehle, denen sie gehorchen mussten. Was denkt ein Mensch vor seinem Tod jetzt noch? Weint er? Schließt er dabei die Augen? Denkt er an seine Lieben daheim? Betet er? Nun peitschten die Maschinenpistolengarben in kurzen Feuerstößen in Rücken und Hinterkopf. Wer jetzt noch zitterte oder wimmerte, erhielt den „Gnadenschuss“ aus der Pistole direkt in das Genick. Gegen 20 Uhr war alles vorbei. Die Dämmerung brach herein. Die Leichen mussten verschwinden. Dafür hatte Degners Stellvertreter, SS-Oberscharführer Dammast, die Niederschlemaer Parteifunktionäre verpflichtet. Sie mussten den Abtransport in den Klosterbergwald organisieren. Sowjetische Kriegsgefangene luden auf und am oberen Kohlweg wieder ab. Gegen Mitternacht lagen etwa dort, wo heute das Ehrenmal steht, über 80 Leichen am Wegesrand aufgestapelt. Am nächsten Morgen ließen die Kriegsgefangenen unter Anleitung eines Gemeindearbeiters die Toten in den alten Schacht der Osterlamm-Fundgrube hinunter. Als er bis oben hin voll war, füllten sie noch einen benachbarten Tagesbruch mit den Leichen auf und bedeckten alles eher notdürftig mit Sand und Reißig. Und da liegen sie heute noch. Links und rechts vom Ehrenmal. Ein Waldfriedhof provisorischer Art.
Das Ganze ist nun 75 Jahre her. Doch vergessen sollen sie nicht sein. Sie waren so um die 20 – 30 Jahre alt, die da immer noch in unserem Wald liegenden Russen, Ukrainer, Polen, Tschechen, Franzosen, Italiener und Deutschen. Einige von ihnen waren Juden. Ach so! Ihre Mörder wurden übrigens nie verurteilt. Derjenige, der den Mordbefehl gegeben hatte, der Mülsener Lagerführer Georg Degner, verstarb erst vor wenigen Jahren. Er wurde fast 100 Jahre alt.
Dr. Oliver Titzmann